Hallo Fred, du betreust ein Internetportal für Geschichten von ADHS-Betroffenen und ADHS-Selbsthilfegruppen. Kannst du unseren Lesern erklären, was ADHS genau ist?
Das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, auch kurz ADHS genannt, zeigt sich bei Kindern durch eine mangelnde Fähigkeit zur Aufmerksamkeits-regulierung. Dabei können verschiedene Ausprägungsgrade bzgl. der Impulsivität und Hyperaktivität vorliegen. Die Symptome bzw. die Diagnose ist unabhängig von der Intelligenz der betroffenen Kinder. Entgegen der oben genannten Aufmerksam-keitsstörung kann die Ausdauer bei Lieblingsbeschäftigungen enorm von einer extrinsischen Motivation abweichen, wenn gerade das aktuelle Interesse der Kinder nicht geweckt wird.
Die Störung ist durch einen frühen Beginn, ein situationsübergreifendes Auftreten und Auswirkungen in alle Lebensbereiche gekennzeichnet.
Um von Störung sprechen zu können, müssen die Merkmale stark ausgeprägt sein. Aus medizinischer Sicht ist ADHS primär biologisch bedingt. Familie und weitere Umweltfaktoren, wie z.B. die Schule, Kindergarten und Freunde, beeinflussen die Ausprägung, den Verlauf, die Entwicklung und eventuell darauf aufbauender Störungen. Relativ häufig ist die Kombination mit Wahrnehmungsstörungen, Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung anzutreffen. Der schulische Werdegang kann zusätzlich durch Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und/oder Rechnen und problematisches Verhalten beeinträchtigt sein.
Es bestehen drei Kernsymptome:
1. Aufmerksamkeitsdefizit
Das Kind ist leicht ablenkbar, zeigt eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, scheint nicht zuzuhören, übersieht Details, vergisst Dinge, beendet häufig Aufgaben nicht, hat keine Ausdauer, träumt mit offenen Augen,…
2. Impulsivität
Das Kind kann nicht abwarten, platzt heraus, handelt unüberlegt, ist schnell frustriert, unterbricht andere, ist unorganisiert, unordentlich, oberflächlich, zeigt starke Stimmungsschwankungen, reagiert übermäßig, fühlt sich schnell provoziert,…
3. Hyperaktivität
Das Kind ist zappelig, hibbelig, motorisch unruhig bis rastlos, kann keine Schulstunde sitzen bleiben, hat großen Bewegungsdrang,… Hyperaktivität und Impulsivität sind bei einem Teil der Betroffenen kaum oder gar nicht ausgeprägt. Es gibt auch die “Träumer”, die in ihre gedankliche Innenwelt abdriften. Häufig können sie dem Schulunterricht nicht mehr folgen. Sie können ihre Aufmerksamkeit nur bedingt willentlich lenken.
Fazit:
Wir haben es mit großer Ablenkbarkeit, Reizoffenheit, kurzer Aufmerksamkeitsdauer in der Alltagsbewältigung, mangelnder Befähigung zur Selbstorganisation und der ständigen Suche nach neuen Reizen zu tun.
Die betroffenen Kinder sollten jedoch nicht nur mit ihren Defiziten gesehen werden. Sie verfügen oft über viel Phantasie, Kreativität und Energie, wenn es um Angelegenheiten geht, die sie interessieren. Sie können erstaunliche Fähigkeiten der Selbstorganisation und der Alltagsbewältigung entwickeln, wenn sie ein selbst gesetztes Ziel vor Augen haben. Wenn Kinder und Jugendliche mit ADHS in schwierigen Lebenssituationen die nötige und richtige Unterstützung erhalten, an ihren Problemen arbeiten können und Anerkennung für ihre Fähigkeiten erfahren, können sie diese Krisenphasen meist gut durchstehen. Dadurch können sogar wichtige Lebenserfahrungen gesammelt werden, die auch ihr Selbstwertgefühl stärken.
Wo ist der Unterschied zwischen ADS und ADHS?
ADHS wurde in den vergangenen Jahren unter verschiedenen Fachbegriffen und Abkürzungen geführt, z.B. MCD, POS, ADD, HKS, ADS, ADHD usw. Um einen einheitlichen medizinischen Fachbegriff einzuführen, einigten sich die Fachleute auf ADHS, was sich leider noch nicht vollständig durchgesetzt hat und somit noch für viele Missverständnisse und Unsicherheiten sorgt.
Am bekanntesten sind die Synonyme ADS für das „Träumerchen“ und ADHS für den auffälligeren „Hyperaktiven“.
Der „Hyperaktive“ fällt durch seinen enormen Bewegungsdrang, seinem „Sprechdurchfall“ und seinem impulsiven Verhalten auf. Das „Träumerchen“ wird oft gar nicht wahrgenommen und lebt sehr zurückgezogen
Ich habe den Eindruck, dass in letzter Zeit bei immer mehr Kindern ADHS attestiert wird. Zumindest haben wir häufiger Kinder mit dieser Diagnose im Ferienlager. Deckt sich dieser Eindruck auch mit deinen Eindrücken? Wenn ja, gibt es Gründe hierfür?
Es scheint in der heutigen Zeit viel mehr ADHS’ler zu geben als noch vor 15 Jahren. Aber woran liegt das? Werden es tatsächlich immer mehr? Die Arbeit der vielen Vereine und Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland ist stark darauf ausgerichtet, zahlreiche und umfassende Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen und somit verstärkt über das Störungsbild aufzuklären. Die ADHS Selbsthilfegruppe Neubrandenburg organisiert zum Beispiel seit 2006 alle 2 Jahre eine ADHS-MESSE. Im April 2010 findet sie schon zum 3. Mal statt. Zur letzten MESSE kamen über 1500 Interessierte aus ganz Deutschland.
Es werden jährlich viele Symposien in ganz Deutschland zum Thema ADHS organisiert und angeboten.
Die Menschen sind auch viel sensibler dem Thema gegenüber geworden. Schließlich hat sich das Bild des Kindes von heute erheblich geändert. Die Eltern und anderen Bezugspersonen sind aufmerksamer als früher, wenn es um Krankheiten bei ihren Kindern geht.
Es gibt aber leider auch Fälle, in denen die Diagnose viel zu schnell gestellt wird.
Nicht jedes Kind, was zappelt, mal bockig und/oder auch mal aggressiv ist, muss zwangsläufig an ADHS leiden. Ich rate den Eltern, sich im Zweifelsfall eine zweite Meinung einzuholen. Nur ein ADHS-erfahrener Facharzt kann mit Sicherheit ADHS diagnostizieren. Hilfe finden betroffene Eltern auch bei den Selbsthilfegruppen vor Ort oder auf ADHS-Internet-Portalen.
Welche Informationen findet man auf deiner Website und an wen richtet sich die Seite?
Unser Sohn war gerade 2,5 Jahre alt, als wir das erste Mal von ADHS erfahren haben. Eine Psychologin, die auf Anraten der Kindereinrichtung, unseren Sohn beobachtete, vermutete dies damals. Für uns begann eine Zeit des Suchens nach Informationen über ADHS. Wir lasen Bücher und durchstöberten das Internet. Wir fanden recht viel und wussten dann auch bald gut über ADHS bescheid. Nur über den Umgang zu Hause gab es da noch nicht all zu viel. So beschloss ich, eine eigene Homepage einzurichten und begann Fragen an Betroffene zu stellen, wie sie mit Problemen im Alltag umgehen. Ich habe über 100 Geschichten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengetragen und stellte sie auf meine Homepage. Nun hatte nicht nur ich die Möglichkeit, mich mit Betroffenen auszutauschen, sondern auch alle anderen, die auf der Suche nach Informationen über dieses Thema waren.
Mittlerweile findet man auf meiner Homepage nicht nur Geschichten, sondern auch viele allgemeine Informationen zu ADHS und Selbsthilfegruppen, Vereinen und therapeutischen Einrichtungen. Diese Homepage richtet sich an Betroffene, Erzieher, Lehrer, Ausbilder und an Bekannte und Freunde der betroffenen Familien, also alle, die mehr wissen wollen. Immer häufiger wird meine Homepage auch von Studenten und anderen in der Pädagogenausbildung befindlichen Interessierten besucht, da ADHS auch heute noch kaum in der Ausbildung oder im Studium berücksichtigt wird.
Ich möchte alle auf meine Homepage einladen, die einen anderen Blick auf ADHS gewinnen möchten. Denn je mehr über ADHS informiert sind, umso verstandener fühlen sich unsere Kinder und haben es leichter, ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden.
Hier gibt es den zweiten Teil des Interviews. Darin berichtet Fred von seinem ADHS-Ferienlager